#10. Sound change and the evolution of speech 1. Was ist Lindbloms H&H Theorie? --------------------------------- Aus [1]. Speech is 'adaptively organised' d.h. sehr viel Variabilität in der gesprochenen Sprache kommt zustande, weil sich der Sprecher an die Sprechsituation anpasst. Der Sprecher produziert eine klare, artikulatorisch aufwendige Sprache (=hyperarticulation), wenn vom Sprecher berechnet wird, der Hörer wäre kaum imstande, die gesprochene Sprache aus dem Kontext vorherzusagen. Z.B. wenn man jemanden vorstellt, kann der Hörer von dem Namen keine Ahnung haben: hier setzt der Sprecher die hyperartikulierte Sprache ein. Wenn jedoch die Äußerung oder Teile davon aus dem Kontext berechenbar sind, dann kommt es zu Verschleifungen/Reduzierungen usw., also zu einer hypoartikulierte Sprache. Hyper- und Hypoartikulation ist also ein 'adaptation to the environment' (Anpassung an die Umgebung). Lautwandel könnte 'adaptive' im evolutionären/Darwin’schen Sinne sein, weil Wandel aus einer sprachlichen Kommunikation entsteht, die sich optimal an die Umgebung/Bedürfnisse des Hörers anpasst. Aus dem Grund sind die häufigsten Formen von Lautwandel mit hyper- und hypoartikulierten Sprache verbunden. (Mehr Details zur H&H Theorie: lindblom88.pdf, S. 156-164) Siehe auch lindblom95.rivling.pdf S.7 und8 für Beispiele der Hypo- und Hyperartikulation. 2. Die 'How' and 'why' Modi der Sprachperzeption -------------------------------------------------- Für Lindblom gibt es zwei Modi der Sprachperzeption: der Hörer konzentriert sich auf (a) was (what) der Sprecher sagte meistens im umgekehrten Verhältnis zu (b) wie (how) er es sagte. (a) kommt zustande, je mehr der Hörer auf den Kontext angewiesen ist, um die Bedeutung der Sprache zu entschlüsseln. z.B. Funktionswörter sind aus dem Kontext meistens vorhersagbar. Daher sind sie auch meistens hypoartikuliert (siehe 1 oben). Und genau hier setzt der Hörer seinen was-Perzeptionsmodus ein, und ignoriert zum großen Teil wie das Wort produziert wurde. Das ist auch gut so, da Funktionswörter aufgrund der Hypoartikulation sehr variabel/reduziert sind! (b) wird eher eingesetzt, wenn der Hörer kaum Kontext verwenden kann - also in hyperartikulierter Sprache, die in der Sprachproduktion eingesetzt wird, wenn die Sprache nicht aus dem Kontext vorhergesagt werden kann. Hier ist aber glücklicherweise die Sprache sehr klar (hyperartikuliert), sodass Kontext kaum notwendig ist, um die Bedeutung zu entschlüsseln. 3. Bezug zu Lautwandel und Ohalas Modell -------------------------------------------------- Man kann sagen, dass sowohl in Ohalas als auch in Lindbloms Modell Lautwandel entstehen kann, wenn ausnahmsweise die Sprache vom Hörer dekontextualisiert wird. Dekontextualisiert bedeutet: ein Laut wird ausnahmsweise nicht im Bezug zum Kontext dekodiert. Dies kommt in Ohala vor, wenn ein Hörer für den Kontext nicht normalisiert (wie wir in den letzten Woche besprochen haben): z.B. wenn Vokal-Vorverlagerung nicht aus 'tut' herausgerechnet wird, dann perzipiert der Hörer /y/ statt /u/ - und das kann zu Lautwandel führen. Hier wird dekontextualisiert, weil der Hörer ausnahmsweise die Vokal-Frontierung nicht auf die Quelle der Koartikulation (das /t/) zurückführt. Dekontextualisierung kommt in Lindblom vor, wenn ausnahmsweise ein wie-Modus falsch eingesetzt wird. Wir wir in 2. oben gesehen haben, wird der was-Perzeptionsmodus z.B. in Funktionswörtern eingesetzt, sodass der Hörer nicht das Signal, sondern den Kontext verwendet, um die Bedeutung wahrzunehmen. Sollte der Hörer aber einen wie-Perzeptionsmodus einsetzen, dann wird er die verschleifte, reduzierte phonetische Form der hypoartikulierten Sprache wahrnehmen, und die verschleifte/reduzierte Variante eventuell als mögliche Aussprache seinem Lexikon hinzufügen. In der Sprachproduktion könnte der Hörer dann auf diese neue Aussprache zugreifen - und das wäre dann Lautwandel. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Modellen ist wie folgt: -In Ohala kommt Lautwandel vor, weil der Hörer ausnahmsweise zu wenig (z.B. Phonologisierung der Vokalnasalisierung) oder zu wenig (Dissimilation) kompensiert. -In Lindblom kommt Lautwandel vor, weil ausnahmsweise dem Lexikon eine andere Aussprache hinzugefügt, und in der Sprachproduktion ausgewählt wird. Beide Modelle sind sich aber einig, dass Lautwandel aufgrund von Hörer-Dekontextualisierung vorkommt. 4. Weitere Unterschiede zu Ohalas Modell: 1. Häufigkeit ------------------------------- Die Teile von lindblom95.rivling.pdf ‘extending the model’ (Abs. 3.3 S. 18 und 3.4 S. 20) können weggelassen oder überflogen werden. Dann mit 3.5 weiter, denn hier ist ein wichtiger Unterschied zu Ohalas Modell. In Lindbloms Modell sind - wie wir oben gesehen haben - hypoartikulierte Formen oft von Lautwandel betroffen, wenn sie dekontextualisiert werden. Hypoartikulierte Formen kommen oft in häufigen Wörtern vor (wie Funktionswörtern). Daher ist eine Vorhersage von Lindbloms, jedoch nicht Ohalas Modell, dass im Allgemeinen häufigere Wörter eher als seltenere Wörter von Lautwandel betroffen sind. 5. Unterschied zu Ohalas Modell: 2. Der Sprecher ------------------------------- Hier sind 3.6 und 3.7 von lindblom95.rivling.pdf wichtig. Hier wird wieder betont, dass zwei Faktoren den Bestandteil eines Lautinventars prägen: 1. der Sprecher gibt sich so wenig Mühe wie möglich (= Hypoartikulation), um Laute distinktiv (= Hyperartikulation) für den Hörer zu produzieren. Insofern haben viele Sprachen der Welt [i, e, a, o, u], weil diese perzeptiv distinktiv sind. Man könnte zwar diese Vokale für den Hörer noch distinktiver machen (durch sekundäre Artikulation, Nasalisierung usw.) aber im allgemeinen geschieht das nicht, weil der Sprecher sich mehr Mühe geben würde, als für die Hörer-Verständlichkeit benötigt wird - d.h. Lautintventare von Sprachen sind laut dieser Theorie meistens genügend distinktiv. Diese zwei Kräfte (sowenig Mühe für den Sprecher wie möglich, so distinktiv wie möglich für den Hörer) prägen auch Lautwandelprozesse - d.h. der Sprecher trägt viel mehr zu dem Lautwandel-Ursprung in Lindbloms Modell bei als in Ohalas. Hier weicht Lindblom auch von Ohala ab, denn artikulatorische Mühe spielt in Lindbloms Modell eine große Rolle - während Ohala die Existenz artikulatorischer Mühe generell bezweifelt. 6. Weitere Unterschiede im Vgl. zu Ohalas Modell: Die Verbreitung des Lautwandels -------------------------------------------------- Ohala trennt sehr scharf zwischen dem Ursprung des Lautwandels (den Bedingungen, die zu Lautwandel führen können) und dessen Verbreitung. Er befasst sich nur mit dem Ursprung. Lindblom versucht, die beiden Teile zu verbinden, d.h. für Lindblom können soziale Faktoren, die zu der Verbreitung des Lautwandels führen, nicht von dessen Ursprung getrennt werden. NB [1] S. 245: 'it may be unnecessary to limit the phonetic contribution to sound change to the initiation stage'. Ob Variabilität sich in Lautwandel umsetzt, hängt laut Lindblom davon ab, wie der potentielle Lautwandel evaluiert wird. Der Hörer evaluiert den potentiellen Lautwandel auf eine dreifache Weise (siehe lindblom98.pdf, und lindblom95.rivling.pdf S. 28) (a) articulatory ease (wie aufwendig der Laut ist in der Produktion?) (b) perceptual adequacy (wie distinktiv der Laut ist für den Hörer?) (c) social value (ist der Laut sozial akzeptierbar?) Ein Beispiel für (c): ein /t/ in 'water' in einer südenglischen Standardaussprache wird selten mit einem Glottalverschluss ersetzt, da dies ein Merkmal einer sozialen niedrigen Klasse (London Cockney) ist. 7. Inwiefern ist Lautwandel evolutionär im biologischen Sinne -------------------------------------------------------------- Für dieses siehe vor allem Ohalas Paper [4]. Das wichtigste aus [4] ist wie folgt: Ohala differenziert zwischen zwei Formen der Variation in Biologie. Kurzfristig (short-term): das ist die Anpassung von einem Tier an die Umgebung - dies ist laut Ohala die Form der Adaption, die in Lindbloms Paper gemeint wird. Dann gibt es die zweite Sorte der biologischen Variation, die wegen der Änderung von Genen vorkommt, die zu einer Differenzierung von Spezies führt. Für Ohala ist Lautwandel teilweise ähnlich zu der zweiten Sorte der biologischen Variation, da diese zweite Sorte nicht teleologisch ist (folgt keinem Ziel). Ebenso gibt es folgende Ähnlichkeiten. In biologischer Adaptation führen kurzfristige Anpassungen an die Umgebung zu kategorialen Unterschieden - wie zwischen Okapis und Giraffen. Lautwandel ist auch kategorial (eine Änderung von z.B. /s/ zu /ʃ/ usw.) und entsteht kumulativ aus der ständigen Anpassung von einem Laut an Kontexte. Jedoch ist Lautwandel laut Ohala doch anders, weil es sich bei Lautwandel nicht um einen Wettbewerb zwischen Ausspracheformen handelt (in der Biologie hingegen überlebt die Spezies, die sich am besten an die Umgebung anpasst). D.h. es gibt keinen ‘optimization through competition of languages'. Und: 'like scribal errors, there is no adaptive value to such variations...there has been no detectable improvement in the communicative capacity of speech.'