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Gespanntheit im Österreichischen

Viele Sprachen unterscheiden sogenannte gespannte und ungespannte Vokale. Jedoch weiß man trotz zahlreicher Untersuchungen noch immer nicht genau, welche phonetischen Konfigurationen bei der Bildung dieser phonologischen Opposition beteiligt sind. Bei der Analyse dieser Opposition wurde bislang das Hauptaugenmerk auf die stationären Anteile des Vokals gelegt, wodurch möglicherweise wichtige Informationen nicht erfasst wurden. Ein Hauptziel dieses Antrags ist es daher, diese Mängel zu beseitigen, indem physiologische Analysen durchgeführt werden, die die dynamischen Aspekte in der Vokalproduktion mitberücksichtigen.

Frühere Untersuchungen sind zu dem Ergebnis gelangt, dass die Gespanntheits-Opposition unterschiedlich realisiert werden kann. Ein Schwerpunkt des Antrags liegt daher auf einem Vergleich zwischen der deutschen Standardsprache (DS) und der österreichischen Standardsprache (ÖS).

Vier gesonderte Forschungsfragen werden bearbeitet: Erstens gehen wir der Fragestellung nach, ob die hohen vorderen Vokale der ÖS im Gegensatz zu denen der DS prä-palatal gebildet werden. Zweitens soll analysiert werden, ob sich die Gespanntheitsopposition mittels einer relativen Überlappung artikulatorischer Gesten modellieren lässt. Dadurch kann auch die Frage beantwortet werden, ob „ungespannte“ Vokale lediglich geschnittene Varianten der „gespannten“ Vokale sind. Drittens wird untersucht, ob die Gespanntheitsopposition in der ÖS geringer ausgeprägt ist als in der DS, und, wenn ja, ob die „ungespannten“ Vokale den „gespannten“ angenähert werden. In Zusammenhang damit wird untersucht, ob sich etwaige Unterschiede zwischen der DS und der ÖS nur in den vorderen Vokalpaaren zeigen, oder ob auch die hinteren Vokalpaare davon betroffen sind. Viertens wird die Auswirkung unterschiedlicher Betonungshierarchien auf die Gespanntheitsopposition untersucht. Insbesondere interessiert ein etwaiger Zusammenhang von Betonungshierarchie und Aufhebung der Gespanntheitsopposition aufgrund von stärkeren artikulatorischen Überlappungen an den Konsonant–Vokal-Übergängen bei niedrigerer Prominenz. Desweiteren wird angenommen, dass der Zusammenhang von Betonungshierarchie und Gespanntheits-Opposition in den beiden Varietäten unterschiedlich realisiert wird. Letztendlich wird noch untersucht, ob in der ÖS ein Lautwandel stattfindet, bei dem die Gespanntheitsopposition der hohen Vokale neutralisiert wird. Dazu werden junge und alte SprecherInnen der ÖS miteinander verglichen.

Mittels der elektromagnetischen Artikulometrie (EMA) werden physiologische Daten der Ober- und Unterlippe, des Kiefers und an verschiedenen Punkten der Zunge von jungen und alten Sprechern der ÖS und von Sprechern der DS erhoben. Zusätzlich werden akustische Daten von einer größeren Sprechergruppe beider Varietäten aufgezeichnet. Versuchspersonen beider Varietäten werden auch an forced-choice Perzeptionstests teilnehmen, bei denen synthetisierte Vokalkontinua von [±gespannten] Minimalpaaren präsentiert werden. Der Projektantrag verbindet die am Institut für Schallforschung in Wien durchgeführten akustischen und soziophonetischen Untersuchungen zu Vokalen der ÖS mit den am Institut für Phonetik und Sprachverarbeitung in München durchgeführten physiologischen Untersuchungen zu Vokalen der DS. Darüber hinaus soll eine Zusammenarbeit mit führenden WissenschafterInnen aus den USA zu einer Modellierung der Schnittstelle von Phonetik und Phonologie bezüglich der Ergebnisse zur Neutralisierung und zu dynamischen Merkmalen in der Realisierung der Gespanntheitsopposition führen.